Leseproben

 

Auf dieser Seite biete ich Ihnen in wechselnder Folge Kurzgeschichten oder Romanauszüge an. Vielleicht möchten Sie danach mehr lesen.

Heute eine Geschichte aus dem noch unveröffentlichten Erzählband “Frauenschicksale / Männerschicksale”:

 

Alex

„Steht ziemlich schlecht um ihn“, sagte der Mann im weißen Kittel. Er beobachtete nachdenklich, wie sich die Farbe des schmalen Teststreifens veränderte. “Die Zuckerwerte sind zu hoch. Viel zu hoch.”

Die alte Frau neben ihm starrte schweigend auf den verkratzten Untersuchungstisch. Ihre Lippen zitterten. Worte konnte sie damit nicht formen.

„Haben Sie denn nicht regelmäßig gespritzt, Frau Stakeljahn?“

Erst nach längerer Pause antwortete sie: „Ich schaff´s nicht.”

„Er braucht aber das Insulin. Zweimal täglich.“

„Ich schaff´s aber einfach nicht mehr, Herr Doktor!“ Ihre Stimme bebte und ihre Augen röteten sich, als sie fortfuhr: „Erstens versteckt er sich unterm Sofa, wenn er nur die Kühlschranktür hört; da habe ich nämlich das Insulin drin. Und zweitens, zweitens deswegen!“ Sie streckte ihm ein blaues Kuvert hin. „Da lesen Sie!“

Der Arzt fingerte einen maschinengeschriebenen Brief heraus, faltete ihn auf und murmelte in unregelmäßigen Abständen einzelne Textpassagen vor sich hin. „Sozialamt der Stadt ... Sehr geehrte Frau Stakeljahn ... leider ablehnen. ... Beihilfen für zuckerkranke Hunde ... nicht vorgesehen. Auch nicht bei Alleinstehenden, die ... Außerdem ... wenig Heilungschancen ... schlagen Ihnen deshalb vor ... Tierheim ... kostenloser Umtausch gegen einen gesunden Hund. Mit freundlichen Grüßen.“

Der Tierarzt zog seine Schultern hoch, gab den Brief zurück, zupfte an seinem Oberlippenbart, brummte ein leises „Hm“ vor sich hin.

„Das können die doch nicht machen“, sagte Frau Stakeljahn.

Der Tierarzt schwieg.

„Alex ist mein Ein und Alles! Elf Jahre hat er mich getröstet, hat mir die Hände geleckt und die kalten Füße im Bett gewärmt. Und jetzt soll ich ihn umtauschen?“

Der Tierarzt strich dem Hund über die trockene Nase, über den Kopf und über den Rücken und ließ dann den dürren Schweif durch seine Finger gleiten. Alex war ein schwarzer Mischling mit struppigem Fell, weißen Stichelhaaren an der Brust, fransigen Schlappohren und viel zu langen Beinen, aber dennoch ein Hund, den man schon wegen seiner Augen streicheln musste.

„So einen kann man doch nicht umtauschen“, sagte Frau Stakeljahn. „Und wer weiß, was die dann mit ihm machen.“

Der Tierarzt schaute verlegen auf die große runde Wanduhr. Ihre Zeiger bewegten sich ruckartig, aber unendlich langsam. Ein leises Ticken schwebte durch den Raum.

„Das Insulin ist viel zu teuer!“ Die Worte klangen wie ein Schrei. „Jede Woche fast 14 Euro.“ Frau Stakeljahn wechselte dabei unruhig ihr Standbein - von links nach rechts und dann wieder von rechts nach links. „Die Sozialhilfe“, fuhr sie fort, „die reicht doch hinten und vorne nicht.“

„Aber ohne Insulin wird es der Alex nicht mehr lange machen. Er ist jetzt schon so schwach und abgemagert. Ohne Spritzen macht er’s nicht mehr lange.

„Und mit Spritzen? Wie lange macht er’s noch mit Spritzen, Herr Doktor?“

Der Tierarzt zögerte mit seiner Antwort. Dann sagte er: „Ein halbes Jahr, vielleicht. Kann aber auch weniger sein.“

Frau Stakeljahn starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, senkte dann ihren Kopf, nestelte an dem schwarzen Tuch herum, dass sie locker über ihr schütteres Haar gebunden hatte, knöpfte einige Male den faltigen Mantel auf und wieder zu und fragte dann mit stockender Stimme: „Können sie ihn denn ... ich meine ... ganz sanft und ohne, dass er lange ...?“

„Einschläfern?“

Sie nickte und presste dabei die Lippen fest zusammen.

„Fällt ihnen schwer, diese Entscheidung“, sagte der Doktor. „Kann ich verstehen. Aber es ist wohl am besten so.“

„Was kostet das denn?“

„Dreißig Euro. Mit Narkose.“

Frau Stakeljahn fasste in die Manteltasche, zog eine kleine rote Geldbörse heraus, öffnete den Reißverschluss und kippte den ganzen Inhalt auf den Untersuchungstisch. Aufgeregt schob sie die Geldstücke hin und her, häufte einige zu kleinen Türmchen auf, zählte, rechnete und sagte dann: „Vierundzwanzigzweiundsiebzig, Herr Doktor. Nicht mal dafür reicht es.“

Wortlos schob der Tierarzt die vielen kleinen Münzen wieder in die Geldbörse und steckte der alten Frau alles in die Manteltasche zurück.

„Ich möchte es aber nicht für umsonst, Herr Doktor! Sie kriegen ihr Geld. Am nächsten Ersten. Dann bring ich’s vorbei. Ganz bestimmt.“

„Nicht so wichtig“, sagte er. „Jetzt kümmern wir uns erst mal um den Alex.“ Er machte eine kleine Pause und fragte dann: „Wollen sie mir assistieren und ihn festhalten?“

„Ich kann ihn doch jetzt nicht allein lassen“, sagte Frau Stakeljahn und drückte den Hundekopf an ihren Bauch.

Der Tierarzt ging wortlos zu dem Schrank mit der breiten Glasschiebetür, öffnete ihn, zog eine Spritze auf, hielt sie senkrecht mit der Nadel nach oben und schob die restliche Luft heraus. Dann kehrte er langsam zurück und nahm das zottige Rückenfell zwischen Zeige- und Mittelfinger. „Das ist die Narkose“, sagte er mit beruhigendem Seitenblick und stach vorsichtig zu. „Der Alex wird gleich ganz friedlich einschlafen.“

Frau Stakeljahn starrte auf die große, runde Wanduhr. Es war ihr so, als bewegten sich die Zeiger langsamer, immer langsamer. Die Hände der alten Frau strichen über das schwarze Fell, blieben liegen, kraulten weiter. Und die schwarzen Zeiger der Uhr strichen über das Zifferblatt, blieben stehen, rückten vor, blieben wieder stehen. Immer langsamer. Und das Ticken wurde langsamer und die Abstände dazwischen größer. Die Minutenstriche wuchsen. Und die schmalen Zeiger wuchsen. Sie wurden breiter, länger, schwärzer, füllten plötzlich die Uhr, wuchsen aus ihr heraus über die ganze Wand, krochen unter der Decke entlang zu den anderen Wänden, tropften von dort auf den Boden und tauchten schließlich den ganzen Raum in ein tiefes, zeitloses Schwarz.

 * 

„Frau Stakeljahn?“ Die Stimme des Arztes klang voller Sorge. „Frau Stakeljahn! Wachen Sie bitte auf!“

Langsam öffnete die alte Frau ihre geröteten Augen, rieb vorsichtig mit den Ärmeln ihres Mantels darüber, schaute verstört in dem Zimmer umher und merkte erst jetzt, dass sie auf einem Stuhl neben dem Schrank mit der breiten Glasschiebetür saß.

„War wohl ein bisschen viel“, sagte der Arzt und half ihr beim Aufstehen.

„Danke, es geht schon“, erwiderte sie. „Irgendwie geht’s schon weiter.“

„Um den Alex brauchen Sie sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen“, sagte er. „Wir haben ihn schon zur Ruhe gelegt.“

„Ja, der Alex“, seufzte Frau Stakeljahn. Dann nahm sie das Halsband und die Hundeleine von dem verkratzten Untersuchungstisch, betrachtet einen Augenblick die runde blaue Steuermarke, murmelte einige Worte, die so klangen wie „Wer weiß, vielleicht kann ich das ja noch mal gebrauchen“ und schlurfte zur Tür.

„Bis zum Ersten, Herr Doktor“, sagte sie noch bevor sie den Raum verließ.

 

Copyright by Hans D. Drechsler 2010